25. Dezember 2022
Statement der FFQM zu Cannabis in der Medizin
Cannabis in der Medizin: Eine rationale Pharmakotherapie erfordert Arzneiformen, mit denen eine exakte Dosierung möglich ist
Cannabis: lange therapeutische Tradition, aber noch viele offene Fragen
Cannabis wird bereits seit Jahrtausenden in diversen Indikationsbereichen therapeutisch angewendet. Dabei stand die Erfahrung der für die Behandlung verantwortlichen Ärzte meist im Vordergrund, während die Grundlagen für eine evidenzbasierte Medizin noch weitgehend fehlten. Jedoch gibt es inzwischen auch aus neuerer Zeit eine Reihe von gut dokumentierten Hinweisen, aufgrund derer die medizinische Verwendung von Cannabis-Zubereitungen in manchen Indikationen als recht gut belegt angesehen werden kann. Diese fasst das Office of Medicinal Cannabis des niederländischen Gesundheitsministerium wie folgt zusammen:
- Schmerzen und Muskelspasmen und -krämpfe bei Multipler Sklerose oder Wirbelsäulenverletzungen
- Übelkeit, reduzierter Appetit, Gewichtsverlust, Schwächung bei Krebs und AIDS
- Übelkeit und Erbrechen als Nebenwirkung der Medikamente oder der Bestrahlungbei Krebserkrankungen und HIV/AIDS
- Lange anhaltende neuropathische Schmerzen, Phantomschmerzen, atypischerGesichtsschmerz oder chronische Schmerzen nach einem Ausbruch von HerpesZoster
- Tics bei Tourette Syndrom
Allerdings reichen die bislang durchgeführten und publizierten klinischen Studien für einen den heutigen Anforderungen entsprechenden Nachweis von Wirksamkeit und Sicherheit offenbar noch nicht aus. Angesichts der Jahrhunderte langen traditionellen Anwendung von Cannabis sowie der vorliegenden Berichte über seinen Einsatz in der modernen Medizin sollten jedoch bei der Zulassungsentscheidung nicht nur die Befunde aus kontrollierten klinischen Studien, sondern auch die im Rahmen der therapeutischen Praxis erhobenen klinischen Erfahrungen angemessen berücksichtigt werden.
Zu einem entsprechenden Fazit ist auch ein vom House of Pharma & Healthcare, Frankfurt, organisiertes Expertentreffen gekommen [House of Pharma, 2017].
Für eine weitergehende Beurteilung der vorhandenen Informationen zur Wirksamkeit von Cannabis ist allerdings zu berücksichtigen, dass die publizierten Beobachtungen auf der Basis von unterschiedlichen Zubereitungen und Anwendungsformen erhoben wurden und diese nicht in allen Berichten ausreichend spezifiziert sind.
Grundsätze für eine rationale Arzneimitteltherapie
Jede Arzneimitteltherapie sollte auf der Grundlage einer sorgfältigen Diagnosestellung sowie einer kompetenten Entscheidung für das zu verwendende Arzneimittel fußen. Hinzu kommen als weitere wichtige Elemente die Definition der benötigten Dosierung und Festlegung der erforderlichen Behandlungsdauer sowie die Auswahl einer geeigneten Arzneiform und deren Applikationsweg
Wenn wie z.B. bei Cannabis die pulmonale Anwendung durch Rauchen bzw. Inhalieren von verdampften Dogenbestandteilen einer oralen Verabreichung von Zubereitungen bestimmter Cannabisinhaltsstoffe (z.B. Cannabidiol CBD oder Tetrahydrocannabinol THC) gegenüber stehen, so muss man sehr unterschiedliche Wirkprofile erwarten: während bei der Inhalation die Effekte sehr schnell anfluten – was bei der genussmäßigen Anwendung mit dem Ziel des euphorisierenden Effektes im Vordergrund steht – , wird die Wirkung nach der Einnahme von Tabletten oder Kapseln deutlich langsamer eintreten, dafür aber länger anhalten können.
Hinzu kommt ein weiterer wesentlicher Aspekt: die Anwendung der Arzneimittel durch den Patienten bringt zusätzliche Unsicherheitsfaktoren mit sich, z.B. in Bezug auf die Compliance (Einnahmezuverlässigkeit), aber auch bezüglich der Verwendung der korrekten Dosierung. Letzteres kann jedoch bei der pulmonalen Applikation von verdampftem Pflanzenmaterial kaum gewährleistet werden. Insofern steht eine solche „ex faustibus“ Dosierung durch den Patenten selbst nicht im Einklang mit den Erwartungen an eine rationale medikamentöse Therapie.
Fortschritte in der Therapie mit pflanzlichen Arzneimitteln
In der Entwicklung pflanzlicher Arzneimittel konnten in den letzten Jahrzehnten erhebliche Fortschritte erzielt werden. Dabei standen nicht nur die klinischen Wirksamkeitsnachweise durch kontrollierte Studien im Vordergrund, sondern vor allem auch Maßnahmen, mit deren Hilfe die Variabilität des Pflanzenmaterials eingeschränkt werden kann. Hierzu gehören neben einem kontrollierten Anbau, über den durch Standort oder Vegetationsperioden bedingte Schwankungen reduziert werden sollen, optimierte Extraktionsverfahren gekoppelt mit Standardisierungsmaßnahmen, z.B. durch Spezifikationen für den Gehalt der Wirkstoffe oder bestimmter Leitsubstanzen.
Erst über diese Maßnahmen konnte eine rationale medikamentöse Therapie mit pflanzlichen Arzneimitteln etabliert werden. Dieser Weg führte konsequent weg von der Zubereitung von Teeaufgüssen durch den Patienten mit den genannten Schwankungen des verwendeten Pflanzenmaterials gepaart mit denen der jeweiligen Herstellung. Heute stehen vorwiegend standardisierte Extrakte in exakt dosierten Applikationsformen, z.B. Tabletten oder Kapseln, zur Verfügung.
Vor diesem Hintergrund ist nicht zu verstehen, warum bei Cannabis weiterhin eine inhalative Anwendung mit immanenten, nicht ausreichend kontrollierbaren Schwankungen diskutiert und von mancher Seite sogar empfohlen wird. Dies wäre nur akzeptabel, wenn andere Applikationswerge nicht zur Verfügung stünden oder mit Hilfe von speziellen Verdampfungs- bzw. Inhalationshilfen die Schwankungen in ausreichendem Maße eingeschränkt werden können. Das jedoch ist nicht der Fall. Diese Einschätzung wird auch von der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin in ihrer „Praxisleitlinie Cannabis“ geteilt [Horlemann, 2022].
Behandlungserfolge mit Cannabis: Evidenzlage?
Bei dieser Frage stehen positive Berichte aus der Anwendungspraxis den Forderungen nach evidenzbasierten klinischen Fakten gegenüber. Letztere konnten bis heute nur in wenigen Indikationen so weitgehend erfüllt werden, dass sie für eine Zulassung ausreichten. Das gilt z.B. für die Therapie von kindlicher Epilepsie bei Fällen von Dravet- oder Lennox-Gastaut- Syndrom (CBD, Epidyolex®) oder die Behandlung von Übelkeit und Erbrechen im Kontext mit einer Chemotherapie (THC, Marinol®, in USA zugelassen). Marinol® ist darüber hinaus in den USA auch für eine HIV/AIDS-assoziierte Anorexie zugelassen – ohne dass es hierfür bisher eine allgemein anerkannte ausreichende Evidenz gibt.
Ein vielversprechendes Anwendungsgebiet, das auch bei der Begleiterhebung des BfArM eine dominante Rolle spielte, ist darüber hinaus der Einsatz bei chronischen Schmerzen. Zu dieser Indikation wurden bereits zahlreiche klinische Studien durchgeführt, von denen auch die meisten Hinweise auf eine positive Wirkung ergaben, ohne jedoch für eine Zulassung in Europa auszureichen
Konsequenzen für eine rationale Therapie mit Cannabis
Angesichts der uneinheitlichen Evidenzlage kommt die ADKÄ (Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft) zu der Empfehlung, dass „für Patienten, die unter einer Therapie mit zugelassenen Arzneimitteln keine ausreichende Linderung von Symptomen wie Spastik, Schmerzen, Übelkeit oder Erbrechen haben, die Gabe von Cannabinoiden als individueller Therapieversuch erwogen werden kann, besonders in der Palliativmedizin“ [ADKÄ, 2016].
Darüber hinaus stellt die AKDÄ fest, dass es „nach der derzeitigen Studienlage keinen Vorteil beim Einsatz von Hanfcannabinoiden („Medizinalhanf“) oder anderen aus der Cannabispflanze gewonnenen Substanzen gegenüber einer Therapie mit THC als Rezepturarzneimittel oder der Kombination THC und CBD als Fertigarzneimittel gibt.“
Mit dieser Aussage tritt die Arzneimittelkommission der bislang nicht durch Evidenzen gestützten Behauptung entgegen, die Anwendung der Ganzdroge oder von daraus gewonnenen Extrakten könnte aufgrund der darin enthaltenen Begleitstoffe Vorteile bezüglich Wirksamkeit und/oder unerwünschten Effekten erbringen. Cannabidiol (CBD) sowie Tetrahydrocannabinol (THC) sind die heute bekannten und gut charakterisierten Wirkkomponenten aus der Pflanze, die isoliert als Einzelsubstanzen oder auch als Kombination in der Therapie eingesetzt werden können.
Insofern stellt sich die Situation bei Cannabis eher als mit der bei Opium oder Digitalis vergleichbar dar, bei denen heute die isolierten Wirkstoffe Morphin und Digitoxin bzw. Digoxin anstelle des Drogenmaterials oder daraus hergestellter Auszüge therapeutisch verwendet werden. In solchen Fällen ist es dann jedoch wichtig, dass diese Stoffe mit definierter Dosis in Fertigarzneimitteln mit konstanter Bioverfügbarkeit eingesetzt werden. Diese Forderung entspricht den Grundsätzen einer rationalen medikamentösen Therapie.
Solange allerdings Fertigarzneimittel für die entsprechenden Indikationen in Deutschland nicht zugelassen sind und daher dem Arzt für eine Verordnung nicht zur Verfügung stehen, können rezepturmäßig in der Apotheke angefertigte THC-Kapseln oder ölige THC-Lösung (aber auch ethanolische Lösung zur Inhalation) sowie ölige Cannabidiol-Lösung verwendet werden, die mit der erforderlichen Qualität und Standardisierung nach den Vorschriften im Deutschen Rezeptur-Formularium NRF angefertigt werden [NRF, 2022].
Klinische Studien mit Cannabis-Produkten
In dem vom BfArM veröffentlichten Abschlussbericht der Begleiterhebung zur Anwendung von Cannabisarzneimitteln [BfArM, 2022] wird in der Kommentierung festgestellt, dass „eine reine Erhebung von Daten, wie in der Begleiterhebung, in ihrer Aussagekraft begrenzt ist und wissenschaftliche Studien, die im Bereich der Arzneimittelzulassung als doppelt verblindete Placebo-kontrollierte Studien … durchgeführt werden, in keiner Weise ersetzen kann.“
Die Kritik an einer solchen Forderung mit dem Hinweis, dass bei Cannabis aufgrund der euphorisierenden Wirkung eine Verblindung nicht effektiv möglich sei, mag für klinische Prüfungen mit „Medizinalhanf“ (also der Droge oder daraus hergestellter Gesamtextrakte) eine gewisse Berechtigung haben, nicht jedoch für Studien mit den isolierten Wirkstoffen CBD und THC, da diese eine euphorisierende Wirkung nicht (CBD) oder – bei geeigneter Dosierung – nur in einem vernachlässigbares Ausmaß entwickeln (THC), so dass eine Verblindung nicht beeinträchtigt würde. Dies wird auch in dem Abschlussbericht der BfArM zur Begleiterhebung bekräftigt, indem eine euphorisierende Nebenwirkung dreimal häufiger bei Anwendung der Blüten als bei anderen Cannabisarzneimitteln berichtet wurde.
Der Hinweis des BfArM in seiner Kommentierung, dass es „sehr ermutigend sei, dass in jüngster Zeit klinische Studien mit Cannabisarzneimitteln, auch in Deutschland, begonnen wurden“, betrifft eine Untersuchung zur Wirksamkeit von Nabiximols bei Erwachsenen mit chronischer TIC-Störung. Diese Studie wird als eine Doppelblind-Prüfung von der Hannover Medical School durchgeführt [CANNA-TICS, 2016]. Das dabei eingesetzte Nabiximols stellt eine Pflanzenextraktmischung aus Blättern und Blüten der Hanfpflanze mit standardisierten Gehalten an THC und CBD dar und ist bereits als Fertigarzneimittel (Sativex® Mundspray) auch in Deutschland zur Behandlung von Spastik bei Multipler Sklerose zugelassen
Dieses Beispiel zeigt, dass auch mit Pflanzenextrakten ein doppelt verblindeter Studien- Ansatz realisierbar sein sollte. In jedem Fall aber sind die sorgfältige Standardisierung der Produktzusammensetzung sowie der Einzeldosierung entscheidende Voraussetzungen, um im klinischen Setting statistisch eindeutige und reproduzierbare Befunde zu erhalten.
Fazit
Auch bei Cannabis ist eine rationale Arzneimitteltherapie nur möglich, wenn standardisierte, vom Patienten einfach und sicher mit der erforderlichen konstanten Dosis anzuwendende (Fertig)Arzneimittel zur Verfügung stehen. Nur so können die gewünschten therapeutischen Effekte reproduzierbar erreicht werden. Mit dem Einsatz von Pflanzenmaterial, das z.B. für eine inhalative Anwendung „ex faustibus“ vom Patienten selbst dosiert wird, ist dieses Ziel dagegen nicht sicher erreichbar.
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass auch ein Diskussionsbeitrag „Cannabis als Arzneidroge – ist das moderne Pharmazie?“ [Dingermann, 2015] zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommt. In diesem fordern die Autoren die Berücksichtigung „höchster pharmazeutischer Standards“ als Basis für die therapeutische Anwendung von Cannabis. Nach kritischer Bewertung von Eigenanbau, dem Gebrauch getrockneter Cannabisblüten, der Verwendung von Drogenextrakten oder der Einnahme von isolierten Reinsubstanzen fordern sie die Bereitstellung von Fertigarzneimitteln mit einer oder mehreren der isolierten Reinsubstanzen, um Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit zu gewährleisten.
Literatur
ADKÄ, 2016: Cannabinoide in der Medizin. www.akdae.de.
BfArM, 2022: Abschlussbericht der Begleiterhebung nach § 31 Absatz 6 des Fünften Buches
Sozialgesetzbuch zur Verschreibung und Anwendung von Cannabisarzneimitteln
CANNA-TICS, 2016: A randomized multi-centre double-blind placebo controlled trial to demonstrate the efficacy and safety of nabiximols in the treatment of adults with chronic tic disorders (CANNA-TICS).
Dingermann, Fürst, Schubert-Zsilavecz & Zündorf, 2015: Cannabis als Arzneidroge – ist das moderne Pharmazie?, Pharmazeutische Zeitung online, Ausgabe 32/2015.
Horlemann, 2022: Praxisleitlinie Cannabis der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin, Fortschr. Med. 2022, 164 (S5).
House of Pharma, 2017: www.houseofpharma.de/dialog/expertentreffen “Zugelassene Cannabis-Fertigarzneimittel für die medizinische Anwendung wünschenswert“, Abschlussstatement.
NRF, 2022: Neues Rezeptur-Formularium, GOVI-Verlag Eschborn: Dronabinol-Kapseln 2,5 mg/5 mg/10 mg (NRF 22.7), Ölige Dronabinol-Tropfen (NRF 22.8), Ölige Cannabidiol- Lösung 50 mg/mL; 100 mg/mL; 200 mg/mL; 400 mg/mL (NRF 22.10) und Ethanolische Dronabinol-Lösung 10 mg/mL zur Inhalation (NRF 22.16).
Prof. Dr. Henning Blume, Vorstandsvorsitzender der Frankfurt Foundation Quality of Medicines
Prof. Dr. Peter Langguth, Universität Mainz
Prof. Dr. Werner Weitschies, Universität Greifswald
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